Wer tatsächlich hinter dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 steckt, konnte bislang nicht endgültig aufgeklärt werden. Tagtäglich werden neue Kuriositäten bekannt, die die offizielle Version der türkischen Regierung über den vermeintlichen Drahtzieher des Putschversuchs über Bord werfen. Die neue Recherche des im US-Exil lebenden Journalisten Adem Yavuz Arslan zeigt die Kuriositäten noch einmal deutlich auf.
Von Adem Yavuz Arslan
Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 gehört weiterhin zu den wichtigsten Gesprächsthemen in der Türkei. Das liegt auch vor allem daran, dass bis heute nicht eindeutig geklärt werden konnte, wer hinter dem Putschversuch tatsächlich steckt. Zwar macht die türkische Regierung um den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan den muslimischen Gelehrten Fethullah Gülen allein verantwortlich. Doch von Anfang an weisen starke Indizien auf Ungereimtheiten in dieser Theorie auf.
Zu diesen Indizien ist nun ein neues dazu gekommen. Darauf macht der im US-Exil lebende türkische Journalist Adem Yavuz Arslan in seiner aktuellen Kolumne aufmerksam.
Laut Arslan soll ein Teil der Todesopfer der Putschnacht durch Waffen getötet worden sein, die nicht zum Inventar der türkischen Streitkräfte “TSK” gehören. Dabei bezieht sich Arslan auf Dokumente aus den türkischen Gerichtsprozessen bei denen vermeintliche Putschisten verurteilt werden. So bezieht sich Arslan unter anderem auf ein Prozess vor dem 23. Strafgericht von Ankara. Dort sei laut Arslan von 377 Patronenhülsen mit einem Durchmesser von 5,56 mm die Rede. Kriminologische Berichte stellten fest, dass diese Patronenhülsen aus 44 unterschiedlichen Waffen stammen. Verurteilt werden aber in diesem Prozess 26 Personen. Es fehlen also Spuren zu 18 weiteren Waffenbesitzern. Das Gericht scheint diese wichtige Ungereimtheit zu ignorieren und unternimmt keine weiteren Untersuchungen zum Thema.
“Diese Patronen gibt es im Inventar der TSK gar nicht”
Dann geht Arslan auf ein wichtiges Detail ein. In den Autopsieberichten dreier Todesopfer werden Patronen von größerem und stärkerem Kaliber erwähnt. Diese Patronen findet man dann auch in den Fahrzeugen der Putschisten. Das Kuriose an diesem Detail ist, dass genau diese Patronen mit einem Durchmesser von 9mm nicht in dem Inventar der TSK aufgeführt sind. Das erwähnt Leutnant Necip Erkul, einer der Verurteilten in dem Prozess, in seiner Verteidigungsrede. “Diese Patronen dürfen nicht von NATO Militärpersonal verwendet werden und deshalb gibt es sie in den einzelnen Einheiten auch gar nicht”, so der Leutnant.
Zudem hätten laut Adem Yavuz Arslan gerichtsmedizinische Untersuchungen ergeben, dass die Patronen, die zum Tod dreier Opfer geführt haben, nicht zu den Waffen der Verurteilten gehören. Durch welche Waffen die Opfer letztendlich getötet worden sind, konnte bislang nicht festgestellt werden.
Der ziellose Angriff auf den Präsidentenpalast
Eine weitere Kuriosität betrifft die Ereignisse am Präsidentenpalast. Dabei soll drei Tage nach der Putschnacht eine RDY-Rakete auf das Eingangstor des Präsidentenpalastes abgefeuert worden sein. Wer genau diese Rakete abgeworfen hat, bleibt weiterhin unklar. Doch die türkische Regierung verwendet dies als ein wichtiges Propagandamaterial. Der Beschuldigte Necip Erkul teilt dazu aber ein wichtiges Detail mit. In seiner Verteidigungsrede sagt Erkul, dass diese Waffen vor etwa 15 Jahren vom Inventar der türkischen Luftwaffe gestrichen und an den türkischen Geheimdienst MIT übergeben worden sind. Der Journalist Arslan dazu: “Die Form der Bombardierung des Präsidentenpalastes war ohnehin seltsam. Wenn diese Aussage der Wahrheit entspricht, dann stehen wir vor einer großen Verschwörung. Wenn dieser Angriff tatsächlich durch eine Waffe stattgefunden hat, die nicht zum Inventar der TSK gehört, dann muss diese Waffe näher untersucht werden. Aber die Staatsanwälte und Gerichte haben diese Schritte seit dreieinhalb Jahren nicht unternommen.”
MP-5 Waffen an Zivilisten
Die Waffen, die mehr als 250 Todesopfer gefordert haben, könnten tatsächlich Schlüsselelemente der Putschnacht sein. Bereits vorher war bekannt geworden, dass Zivilisten in jener Nacht Waffen von türkischen Behörden erhalten haben. So beispielsweise vor dem Polizeipräsidium in Ankara, in der MP-5 Waffen verteilt wurden. Nach Bekanntwerden dieses Skandals musste das Gouverneursamt der Stadt den Fall eingestehen, nachdem 15 Tage später mit einer dieser Waffen ein Mord in Ankara begangen wurde, der nichts mit der Putschnacht zu tun hatte. Wie viele Waffen genau verteilt wurden und wie viele davon wieder an die Behörden zurückgebracht worden sind, ist unklar.
Hinterbliebene von Todesopfern machen auf Ungereimtheiten aufmerksam
Wer genau in der Putschnacht aktiv war, ist unklar. Neben dem türkischen Geheimdienst MIT sollen auch ehemalige Militärs in die Menschenmassen eingedrungen sein – in welcher Funktion genau und mit welcher konkreten Aufgabe, ist nicht bekannt. Diese Frage wird nochmal spannender, wenn man konkrete Einzelfälle näher unter die Lupe nimmt. Ein prominentes Beispiel ist die der Familie Olçok. In der Putschnacht sind der Ex-Mann und der Sohn von Nihal Olçok ums Leben gekommen. Nihal Olçok, die mittlerweile auch politisch aktiv geworden ist, erzählt von vielen Ungereimtheiten der Putschnacht. Ihr Ex-Mann und ihr Sohn seien durch Scharfschützen getötet worden. Offiziellen Aussagen nach ist Erol Olçok getötet worden, als er auf dem Weg zu den Soldaten war. Er habe versucht, die Soldaten von dem Fehler, einen Putsch zu begehen, zu überzeugen. Doch der Autopsiebericht kommt auf ein anderes Ergebnis. Darin heißt es, dass der Mann, aus einer höheren Perspektive erschossen wurde. Damit wäre es unmöglich, dass Soldaten den Mann am Rücken treffen. Genau das ist aber passiert, was den Anschein erwecken lässt, dass jemand aus einer andere Perspektive den Schuss abgefeuert haben muss. Wer genau das sein könnte, ist weiterhin unklar.
Es sind also sehr viele Ungereimtheiten, was die Putschnacht vom 15. Juli 2016 angehen. Es ist unklar, wer in jener Nacht aktiv war und wer wen getötet hat.