Sibel Erva Dalga ist heute fünf Jahre alt geworden. Sie hat vor 8 acht Monaten ihre Mutter bei einem Verkehrsunfall verloren. Es ist ihr fünfter Geburtstag ohne Vater und ihr erster ohne Mutter.
von Sevinç Özarslan
Als der Vater von Sibel Erva ins Gefängnis ging, war sie erst zweieinhalb Jahre alt. „Sie hat so viele Geburtstage ohne ihren Vater verbracht. Dieses Jahr wird es wohl nicht anders sein. Unsere Tochter hat uns noch nie in einem Haus gemeinsam gesehen. Es gibt keinen Moment, in dem wir zu Hause oder draußen gemeinsam waren. Hoffentlich wird ihr Vater an ihrem fünften Geburtstag mit uns zusammensein,“ sagte ihre Mutter noch im vergangenen Jahr. Er konnte es nicht. Sibel Erva ist jetzt nicht nur ohne Mutter, sondern auch ohne Vater. Sie ist eine Waise. Bevor sie ihren Vater kennenlernen durfte, verstehen konnte, was ein Vater ist, hat sie gelernt, was es heißt ohne Mutter zu sein. Seit acht Monaten fragt Sibel Erva immer wieder, wohin ihre Mutter gegangen ist. Manchmal fragt sie den Himmel, manchmal den Boden, manchmal die Tante, manchmal ihre Onkel. Nachts schläft sie mit ihrer Großmutter, tagsüber mit dem Foto ihrer Eltern. Wenn sie den Namen ihrer Mutter hört, verändert sich ihr Gesicht. Man sieht ihr die Trauer dann an.
„Ich will sterben,“ sagte eines Tages das kleine Kind zu ihrer Großmutter. Als sie gefragt wurde, warum, antwortete sie: „Ich will Gott sehen.“ Eigentlich wollte sie aber ihre Mutter sehen. An einem anderen Tag zeigte sie zu den Wolken und fragte, „ist meine Mutter über diesen Wolken?“ Sibel Erva ist alles bewusst, die bei dem Verkehrsunfall ihren Fuß gebrochen hatte. Bei der Beerdigung ihrer Mutter in ihrem Dorf hatten die Anwesenden alles versucht um die Tod ihrer Mutter zu verheimlichen. „Ich weiß, meine Mutter ist tot. Aus ihrem Mund kam Blut,“ sagte das Mädchen. Nach dem Verkehrsunfall hatte sie am Ufer eines Flusses den schwerverletzten Körper ihrer Mutter festgehalten und darauf gewartet, dass die gerettet werden. Wir kann ein Kind diesen Moment jemals vergessen? Mit welchen Worten kann man so ein Kind trösten?
Muttertag ab Grab der Mutter gefeiert (Foto)
„Lieber Gott, nimm meine Mutter im Paradies auf“
Letzte Woche war Sibel Erva am Muttertag am Grab ihrer Tochter im Dorf Köknar bei Trabzon. Sie hatte diesen besonderen Tag gemeinsam mit ihrer Cousinen und Cousens sowie Tanten das Grab ihrer Mutter besucht. Sie setzte sich an ihr Grab und warf Kamilleblüten über das Grab. Sie hinterlies ein Papier mit der Aufschrift „herzlichen Glückwunsch zum Muttertag,“ das sie gemeinsam mit ihren Cousinen angefertigt hatte. „Lieber Gott, nimm meine Mutter ins Paradies auf,“ bat sie Gott an diesem Tag.
Vater verhüllt sich im Gefängnis ins Schweigen
Lütfü Dalga ist seit drei Jahren und acht Monaten im Gefängnis von Rize inhaftiert. Er hatte seine Tochter nur an den Besuchstagen gesehen. Ihr Lächeln, ihr weinen, ihrer ersten Zähne, das erste Mal, als sie Mutter und Vater sagte, ihre ersten Schritte…An dem Tag, als der Vater, der seine geliebte Ehefrau verlor und seine Tochter seiner alten Mutter im Dorf abgeben musste, ist seit diesem Tag nicht mehr derselbe. Er ist in sich verschlossen. Seine Mitinsassen erzählen, dass er nicht mehr als fünf oder sechs Sätze am Tag spricht. „Bei der Trauerfeier sagte er, ich habe keinen Grund mehr Geduld zu haben.“
Es erinnert an den Fall des ebenfalls inhaftierten Lehrers Enes Evren Civelek, der seine Töchter Naime und Betül verloren hat, als diese auf dem Weg zum Besuch ins Gefängnis waren. Wer weiß, vielleicht kreischt er vor seinen Schmerzen, wenn er Nachts sich an den Gittern seiner Zelle festhält und tagsüber die Wände anstarrt…
Es wird noch sehr lange dauern, bis Sibel mit ihrem Vater zusammenleben wird. Der Polizist Lütfü Dalga wurde am 1. August 2016 wegen Terrordelikten festgenommen und zu 7,5 Jahren Haft verurteilt. Der Fall liegt vor dem Berufungsgericht. Begründet wurde der Vorwurf mit einem Bankkonto bei der Bank Asya, der Mitgliedschaft in einem Verein, eines Zeitungsabonnements und der Nutzund der Messenger-App „ByLock.“ Keines davon ist im türkischen Strafrecht eine Straftat. Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 sind viele Kinder zu Opfern willkürlicher Justiz geworden. Sie müssen die schwere Last auf ihren kleinen Schultern tragen, so wie die vielen Naimes, Betüls und Ahmets…Es sind viele Kinder, die ohne Mütter und Väter aufwachsen müssen.
Ein ruinierter Familienvater
Bei dem Verkehrsunfall, an dem Sibel Ervas Mutter umgekommen ist, wurden eigentlich zwei Familien ruiniert. Es starben insgesamt fünf Personen von der Familie ihrer Vaters und auch ihrer Mutter, als sie am 19. September 2019 auf dem Weg ins Gefängnis waren, um den ehemaligen Polizeibeamten zu besuchen. Sie waren damals zu Besuch in Hatay. Der Weg von dort ist lang und sie hatten nur wenig Zeit. Die Besuchszeit von Lütfü Dalga war in den Morgenstunden und sie wollte die Zeit nicht verpassen. In der Nähe eines Flussufers bei Sivas Pınarbaşı-Şarkışla kam es dann zu dem verheerenden Verkehrsunfall. Dabei starben der Bruder von Sibel Erva, Hakan Umuç (35) und sein Sohn Yunus Emre Umuç (1). Zwei weitere Kinder: Yusuf Kenan Umuç und Yavuz Selim Umuç (9) sowie die Mutter Hicran Dalga (32) verstarben später im Krankenhaus. Der Hall der Trauerlieder von Casim Umuç, der seine Tochter, seinen Sohn und drei seiner Enkelkinder bei dem Verkehrsunfall verloren hatte, sind in den Ohren vieler nicht verstummt.
Geburtstagsbotschaft eines Kindes
Sibel Evra lebt heute bei ihrer 80 Jahre alten Großmutter. Auf Twitter gibt es jetzt die Hashtags #LütfüDalgaTahliyeEdilmeli (übersetzt: Lütfü Dalga muss freigelassen werden) und #Ervababasınakavuşsun (Erva soll bei ihrem Vater sein). Bislang gibt es keine Reaktion der Mächtigen darauf. Deswegen wiederholt Sibel Erva: „Meine Mutter ist ein Engel geworden. Ich bin alleine. Ich will meinen Vater.“