In der Türkei sterben nahezu täglich Soldaten. Dieser Zustand hält seit Jahrzehnten an. Doch in letzter Zeit ist ein Trend zu beobachten, der aufhorchen lässt. Opfert der türkische Staat bewusst Soldaten, die auf den staatlichen Spionagelisten als Gülen-Anhänger vorkommen?
von CEVHERİ GÜVEN
Fatih Saylak war Soldat. Als Unteroffizier der Infanterie des türkischen Militärs war er in der syrischen Provinz Idlib stationiert. Am 10. Februar hatte die syrische Armee unerwartet die Stadt angegriffen. Dabei kam Saylak ums Leben. Ein ähnliches Schicksal erlebte auch der Soldat Ökkeş Karaca. Karaca kam bei der türkischen Militäroffensive “Schutzschild Euphrat” 2016 ums Leben. Die beiden verbindet nicht nur die gemeinsame Heimatstadt Kahramanmaraş, sondern vielmehr eine Akte in der Istanbuler Staatsanwaltschaft.
In dieser Akte befinden sich nämlich die Aussagen der beiden gefallenen Soldaten Fatih Saylak und Ökkeş Karaca. Beide kommen dabei in Aussagen von sogenannten “Geständigen” (Türkich: itirafçı) vor. Dort werden Saylak und Karaca als Mitglieder der Gülen-Bewegung bezeichnet. Nach diesen Aussagen wurden beide nach Syrien geschickt. Also mitten in die gefährlichsten Regionen für türkische Soldaten. Wenig später kamen beide bei Gefechten ums Leben.
Saylak wurde mit militärischen Ehren beerdigt. Karaca wurde zwar auch in ähnlicher Form beigesetzt, doch wenig später bekam seine Familie eine Post, mit der Information darüber, dass gegen Ökkeş Karaca ein Ermittlungsverfahren wegen Terrorismus lief, dieses Verfahren aber wegen des Todes eingestellt worden sei.
Ehemalige Militärangehörige, die nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 suspendiert wurden, hatten erst kürzlich auf solche Fälle aufmerksam gemacht und behauptet, dass Soldaten, die auf Spionagelisten der türkischen Regierung standen, in Syrien als Bauernopfer in die vorderste Front geschickt werden. Die Fälle der gestorbenen Soldaten Saylak und Karaca sind nur zwei Beispiele dafür.
Schwere Vorwürfe von Ex-Militärs
Oberstleutnant Mehmet Alkan gehört zu diesen Ex-Militärs, die diese Behauptung aufstellen. Alkan glaubt, dass den türkischen Streitkräften (TSK) eine Spionageliste vorliegt, auf der etwa 9.000 Namen von vermeintlichen Gülen-Anhängern oder stehen. Diese würden nach und nach suspendiert oder an die vordersten Fronten nach Syrien geschickt werden, behauptet Alkan in einem Interview mit “Biz10tv”: “Die Zahl ist viel höher, aber sie wollen erst mal eine Operation gegen 9.000 Militärangehörige durchführen. Sie wissen, dass sie keine Operation gegen alle gleichzeitig durchführen können und wollen das Schritt für Schritt durchführen.” Einige von ihnen würden nach Syrien oder woanders hingeschickt. Alkan weiter: “Es ist eine sehr seltsame Situation. Wenn sie morgen sterben würden, würden sie als Märtyrer verehrt und auf den Schultern getragen. Aber wenn sie nicht sterben, werden sie als Terroristen betrachtet.”
Einen noch skandalösen Vorwurf macht der ehemalige Militärattaché in Griechenland Halis Tunç. Tunç schreibt in einem Text für den Online-Informationsportal über den Putschversuch 2016 15Temmuzinfo.com, dass nach dem 24. August 2016 und nach dem Beginn der Militäroffensive in Syrien viele Militärangehörige freigelassen wurden: “Obwohl die Prozesse liefen, in denen diese Menschen als Terroristen angesehen wurden, hat man die Ausreisesperren aufgehoben, um sie nach Syrien in die Militäroffensive zu schicken.”
Vom Terroristen zum Märtyrer
Je mehr man auf die Hintergründe der ums Leben gekommenen türkischen Soldaten schaut, umso mehr bewahrheiten sich die Behauptungen der Ex-Militärs. Ein weiteres Beispiel ist der Tod des Oberleutnants Çelebi Bozbıyık. Bozbıyık gehört zu jenen Soldaten, die nach dem Putschversuch 15 Tage lang in Handschellen in Untersuchungshaft gehalten worden waren. Ihm wurde Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorgeworfen. Während der Prozess lief, wurde er freigelassen und nach Syrien an die Front geschickt. Bei einem Gefecht in Manbidsch kam auch er ums Leben.
Soldaten werden bewusst in den Tod geschickt
Muhammet Ali Kalo ist ein weiter Oberleutnant. Er wurde nur 24 Jahre alt. Schüsse der YPG töteten den jungen Soldaten in der syrischen Stadt Tall Rifaat. Der Bruder von Muhammet Ali Kalo, Mustafa Kalo, war auch Angehöriger des türkischen Militärs. Im Rahmen der Ermittlungen gegen die Gülen-Bewegung befindet sich Mustafa Kalo weiterhin in Haft. Während einer der Brüder Kalo als Märtyrer verehrt wird, wird der andere als Terrorist bestraft.
(Die Brüder Mustafa Kalo links und Muhammet Ali Kalo rechts. Mustafa Ali Kalo wurde bei Gefechten mit der YPG in Tall Rifaat gefallen.)
Der ehemalige Oberleutnant Muhammet Yıldız behauptete kürzlich in den Sozialen Medien ebenso wie die anderen beiden Ex-Soldaten, dass Militärangehörige, die als vermeintliche Terroristen vor Gericht stehen, bewusst in Krisenregionen geschickt werden. Wenn sie sterben, werden sie als “Märtyrer” bezeichnet. Wenn sie am Leben bleiben, werden sie nach ihrer Rückkehr entweder suspendiert oder festgenommen, meint Yıldız.
Überlebende von Militäroperationen werden verhaftet
Ähnliche Beobachtungen macht auch die Journalistin Müyesser Yıldız. Yıldız behauptet in einer Kolumne bei ODATV, dass eine große Zahl an Soldaten, die in den Irak oder nach Syrien geschickt werden, nach ihrer Rückkehr in Untersuchungshaft gesteckt werden. “Es gibt einen, der nach dem 15. Juli 2016 ganz wichtige Dienste geleistet hat” schreibt Yıldız. Yıldız beobachtet die TSK schon sehr lange. Sie führt ihr Beispiel weiter aus: “Er hat in Al Bab sowie Afrin gekämpft und nach seiner Rückkehr wurde auch er in Untersuchungshaft gesteckt. Dann wurde er mit einer Ausreisesperre freigelassen und wurde mehrmals ins Ausland geschickt, um besondere Aufgaben für die TSK und den Staatsanwaltschaften zu erledigen. Und jetzt wurde er vor wenigen Tagen suspendiert”
Als Polizist ein Terrorist, als Soldat ein Märtyrer
Zekeriya Altınok ist ein ehemaliger Polizeibeamter. Nach dem 15. Juli 2016 wurde auch er als “Terrorist” abgestempelt und vom Dienst suspendiert. Er war 16 Monate inhaftiert. Da er bis dahin seinen verpflichtenden Wehrdienst nicht absolviert hatte, musste er diese nachholen. Obwohl er jemand war, dessen Verurteilung noch nicht abgeschlossen war und er wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation von seinem Polizeidienst suspendiert wurde, wurde er an der iranischen Grenze eingesetzt. Am 20. Oktober 2019 wurde er bei Gefechten mit der PKK getötet.